R. Bonderer: Willensnation wider Willen

Cover
Titel
Willensnation wider Willen. Die medialen Konflikte in der Entstehungszeit des Schweizer Nationalstaats (1830-1857)


Autor(en)
Bonderer, Roman
Erschienen
Basel 2021: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
462
Preis
CHF 75.00
von
Marco Jorio

Schon auf der ersten Seite lässt das Eingangszitat aus der liberal-radikalen Appenzeller Zeitung erahnen, dass es auf den folgenden Seiten grob zu und her gehen wird: Da ist von der «Reaktions- und Jesuitenpartei» die Rede, deren Presse als eine «wahre Kloake der Lüge, der Lästerung, der Heuchelei» verteufelt wird. Bonderers Berner Dissertation beschäftigt sich mit diesem aufgeregten verbalen Schlagabtausch zwischen dem liberal-radikalen und dem konservativen Lager im «politischen Glaubenskrieg» (10) um die Schaffung eines Bundesstaates. Der Autor stellt den Begriff der Schweiz als «Willensnation», der als Gegenentwurf zu anderen Nationalkonzepten wie Sprachnation oder Staatsnation gerne in politischen Reden und Schriften beschworen wird, für jene Zeit in Frage. Er tritt der Vorstellung entgegen, dass damals ein Wille zu Einigkeit und Brüderlichkeit geherrscht hätte (wobei eigentlich niemand, der sich mit dieser Periode beschäftigte, je friedliche Zustände beschwor). Bonderer zielt aber auf eine jüngere, etwa von Ursula Meyerhofer und Irène Herrmann vertretene «harmonisierende» Interpretation (19), die annimmt, dass sich die beiden Lager aufeinander zubewegten, bis schliesslich die im Sonderbundskrieg unterlegenen (Katholisch-)Konservativen den Bundesstaat akzeptierten. Der Autor betont im Gegenteil die Konflikthaftigkeit der Auseinandersetzungen sowie die Gewaltbereitschaft und vermag keinen Willen zu erkennen, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Er räumt aber ein, dass es sehr wohl «Formen eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls gegeben hat» (18). Tatsächlich stellte niemand die Existenz der Eidgenossenschaft in Frage; es gab auch keine Sezessionsbewegung, aber über die Art und Weise der Bundesrevision, vor allem über das Verhältnis von Bund und Kantonen, war man sich ganz und gar nicht einig.
Die Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel. Am Anfang erörtert der Autor methodische und medienhistorische Aspekte und stellt seine Quellen vor. Für seine Medienarbeit wertete er für (fast) jedes politische Lager das wichtigste deutschschweizerische Parteiblatt aus: Appenzeller Zeitung (radikal), NZZ (liberal), Staatszeitung der katholischen Schweiz sowie ergänzend Schwyzer Zeitung und Zuger Zeitung (katho-lisch-konservativ) und die Basler Zeitung (reformiert-konservativ). Die Berücksichtigung des Basler Blatts ist insofern bemerkenswert, als bis anhin das antiliberale protestantisch-konservative Lager unterschätzt wurde; es wird übrigens im einleitenden Zitat ebenfalls in den jesuitischen Schmutzkübel geworfen. Im zweiten Kapitel werden sieben Ereignisse zwischen 1830 und 1857 anhand der medialen Konflikte abgearbeitet: Julirevolution, Napoleonhandel, Züriputsch, Freischarenzüge, Sonderbundskrieg, Bundesverfassung 1848 und Neuenburgerhandel. Im Zentrum der Arbeit stehen aber vier «inhaltliche Schlüsselmerkmale», an denen der Autor die tiefen Gräben innerhalb der Eidgenossenschaft dokumentiert.
Der «Kampf um die Geschichte» (Kapitel 3) war eines der Schlachtfelder, auf denen sich die «Streithähne der Regeneration» (88) in der Interpretation der Geschichte, primär der mittelalterlichen, bekriegten. Für die Liberal-Radikalen waren die «heldenhaften Vorväter» bereits Vorkämpfer des demokratischen und unabhängigen Nationalstaats, von Menschenrechten, Freiheit und Gleichheit. Diese Werte gingen dann aber verloren und mussten im Sinne einer «Regeneration» wiederhergestellt werden. Für die Konservativen hingegen waren die Vorväter Musterbeispiele der Einfachheit, der Religiosität, der Treue und Opferbereitschaft, deren hart erkämpfte Freiheit durch die revolutionären Liberalen zu Grabe getragen würde. Bonderer widerspricht «vehement» (167) der These der sich annähernden Geschichtsbilder und erkennt trotz des gleichen historischen Fundus kein gemeinsames identitätsbildendes Geschichtsbild.
Im 4. Kapitel «Nation und Nationalismus» schildert Bonderer, wie die LiberalRadikalen die nationalistische Rhetorik geschickt im Kampf für einen Bundesstaat einsetzten. Dabei ging es in erster Linie darum, den Gegner als Vaterlandsfeind zu diffamieren. Die paar in der Schweiz wirkenden Jesuiten wurden auf geradezu groteske Weise zu Hassobjekten und zur öffentlichen Gefahr hochstilisiert. Im Antijesuitismus glaubt Bonderer Parallelen zum Antisemitismus zu erkennen – eine interessante, aber gewagte These (197/98).
Im 5. Kapitel «Konfession und Konfessionalisierung» kehrt die überwunden geglaubte konfessionalistische Deutung des Kampfs um die Bundesrevision zurück. Bonderer sieht hinter dem Antijesuitismus und Antiultramontanismus der Protestanten zweifellos zu Recht einen «pauschalen Antikatholizismus», der seit der Reformation in der protestantischen Konfessionskultur angelegt war. Die KatholischKonservativen nahmen die von den Liberal-Radikalen inszenierte Konfessionalisierung auf und interpretierten sie als Angriff auf die katholische Kirche. Auch ist Bonderers Feststellung zuzustimmen, wonach die von beiden Seiten zwecks interner Mobilisierung gespielte konfessionelle Karte den Zusammenschluss der reformierten und katholischen Konservativen verhinderte und das konservative Lager spaltete. Zu kurz kommt aber die Tatsache, dass die Konfessionalisierung nicht vollständig gelang, wie die «Neutralität» der beiden reformierten Kantone Neuenburg und Baselstadt im Sonderbundskrieg oder die Parteinahme für die liberale Sache von mehrheitlich katholischen Kantonen (Solothurn, Tessin, St. Gallen) und katholischen Regionen (z.B. Ausserschwyz, Greyerz) sowie die prominenten protestantischen Unterstützer des Sonderbunds belegen. Eine starke Minderheit des Schweizer Katholizismus war liberal, ja zum Teil radikal gesinnt und kämpfte nicht so sehr gegen die Kirche, als vielmehr gegen innerkirchliche «Auswüchse» wie Klerikalismus und römischen Zentralismus. Und hier rächt sich, dass keine katholisch-liberale Zeitung ausgewertet wurde, welche den Gegensatz katholisch-protestantisch relativiert und den innerkatholischen Konflikt aufgezeigt hätte.
Die Dissertation schliesst mit dem originellen 6. Kapitel «Der Kampf um die tugendhafte Männlichkeit» – das einen Einblick in den «bürgerlichen Wertehimmel» gibt. In der Parteipresse wurden unterschiedliche Männlichkeitskonzepte vertreten. Die Konservativen hoben Werte wie Treue (zur überkommenen Ordnung der Väter), Gehorsam sowie Ergebenheit hervor und sahen im gläubigen Katholiken oder Protestanten ihr Idealbild. Die Liberal-Radikalen dagegen wünschten sich fortschrittsfreundliche, zukunftsoptimistische und aufgeklärte Männer. Die Männlichkeitsideale deckten sich dennoch über weite Teile: Alle forderten Mannhaftigkeit, Mässigung, Besonnenheit, Empathie und Mut, so dass nach Bonderer das konservative wie das liberale Modell des männlichen Bürgers «innerhalb der bürgerlichen Ordnung anzusiedeln» ist (21). Die Frauen waren ohnehin «aus der als männlich konnotierten politisch-öffentlichen Sphäre» ausgeschlossen (403).
Bonderer gelingt es eindrücklich aufzuzeigen, wie sich die beiden Lager in ihrer «sprachlichen Rohheit und Polemik» (39) in der Presse gegenseitig hochschaukelten. Allerdings war das politische Spektrum breiter und differenzierter, als es in den lärmenden Zeitungen (und demzufolge in der Dissertation) zum Ausdruck kam. Denn nach geschlagener Schlacht wurde der Brei (politisch und verfassungsrechtlich) nicht so heiss gegessen, wie er (medial) gekocht wurde. Der neue Bundesstaat kam den föderalistischen Anliegen der Konservativen (und eines Teils der Liberalen) weit entgegen, so dass schon 1948 Edgar Bonjour anlässlich der Zentenarfeier die Konservativen als heimliche Sieger sah. Die Kantone blieben zum Ärger der Radikalen die «massgeblichen Einheiten des politischen Lebens» (82) im vorerst schwach zentralisierten Bundesstaat. 1848 war – um mit Daniel Speich Chassé (2012) zu sprechen – trotz der ideologischen Zerrissenheit der Schweiz weder ein radikaler Bruch, noch die 2018 von Rolf Holenstein beschworene «Stunde Null». Für die Mehrheit der in ihren Gemeinden und Kantonen lebenden Schweizer änderte sich vorerst nämlich nicht viel.

Zitierweise:
Jorio, Marco: Bonderer, Roman: Willensnation wider Willen. Die medialen Konflikte in der Entstehungszeit des Schweizer Nationalstaates (1830–1857), Basel 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 473-475. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>

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